Corona-Triage und Menschenwürde
1.
Hat die grundrechtliche Schutzpflicht für das menschliche Leben einen Menschenwürdekern? Die „Triage“ von COVID-19-Patienten, also ihre Sortierung bei knappen Behandlungskapazitäten, wirft diese Frage auf. Sie ist zu bejahen: Es würde die staatliche Schutzpflicht für die Menschenwürde verletzen, wenn der Staat etwa anordnen würde, statt möglichst vieler nur möglichst junge Menschen zu retten.
2.
Den Grundsatz, bei einer solchen Triage auch auf die Zahl der geretteten Lebensjahre abzustellen, hat eine italienische Ärztegesellschaft ihren Empfehlungen vom 6. März zugrunde gelegt.
Ein Arzt einer Klinik in Bergamo in Norditalien beschrieb die konkrete Anwendung im Interview mit dem Nachrichten-Podcast der New York Times („The Daily“ vom 17. März) so: Wenn ein Patient 85 Jahre alt sei, gebe er das Bett einem anderen, der 45 Jahre alt sei. Es sei schwierig, den Patienten zu sagen, dass sie keine Aussicht auf ein Bett für die Intensivbehandlung hätten, wenn sie 80 Jahre alt seien. Aus dem Elsaß wird berichtet, Corona-Patienten über einem bestimmten Alter (75 oder 80 Jahren) würden nicht mehr beatmet.
3.
Weyma Lübbe hat überzeugend dargelegt, dass der Grundsatz, die Zahl der geretteten Lebensjahre zu maximieren, nur utilitaristisch begründet werden kann – anders als die traditionelle Maxime für die Triage, die Zahl der geretteten Menschenleben zu maximieren. Sie hat gezeigt, dass dieser Grundsatz unmenschliche Folgen hat: So könnte er, konsequent umgesetzt, bedeuten, dass einer Sechzigjährigen die Behandlung mit einem Beatmungsgerät selbst dann noch zugunsten eines Zwanzigjährigen verweigert werden müsste, wenn sie sehr wahrscheinlich (zu 70%) gerettet werden könnte, ohne Behandlung aber mit Sicherheit stirbt, der Zwanzigjährige dagegen schon ohne Behandlung wahrscheinlich (zu 70%) überleben würde, sich mit der Behandlung aber seine Überlebenswahrscheinlichkeit noch einmal auf nahezu 100% steigern ließe. Denn die Rechnung ergibt dann, dass sich wahrscheinlich mehr Lebensjahre gewinnen lassen, wenn der Zwanzigjährige beatmet wird, nicht die Sechzigjährige.
4.
Als staatliche Anordnung ausgesprochen, würde ein solcher Grundsatz, bei der Triage von Corona-Patienten die Lebenserwartung zu maximieren, die staatliche Schutzpflicht für die Menschenwürde verletzen. Denn solch eine Anordnung würde das Leben als ein aggregierbares und nach seiner Dauer zu maximierendes Gut behandeln. Sie wäre mit der gleichen Würde aller unvereinbar.
Rechte funktionieren „nonaggregativ“, wie Lübbe aus philosophischer Sicht betont: In Knappheitslagen müssen sie „nicht maximiert, sondern auf gerechte Weise spezifiziert werden“. In der deutschen und europäischen Grundrechteordnung ist dieser Grundgedanke jedenfalls für den Menschenwürdekern der Grundrechte auch im positiven Recht verbürgt.
Für das Grundgesetz ergibt sich das daraus, dass die verfassungsgebende Gewalt mit der Menschenwürde einen Kerngehalt der Grundrechte gerade als unantastbar einer konsequentialistischen Verrechnung und Abwägung entziehen wollte (vgl. näher hier, S. 398 ff.).
So betonte Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat, die Menschenwürde beruhe auf Rechten, die den „Mindeststandard“ charakterisierten, „von dem wir ausgehen wollen, die absolute Schranke, die gegenüber der Staatsraison aufgerichtet ist“:
„Die von niemand bestrittene notwendige Staatsraison muß an einer bestimmten Barriere halt machen. Der Staat muß gelegentlich opportunistisch handeln, aber irgendwo muß er auf seinen Vorteil verzichten können, wenn er sieht, daß er sonst bestimmte Rechte des Menschen mit Füßen treten müßte“.
Und Ludwig Bergsträsser pflichtete Schmid darin bei, dass die Menschenwürde „gegen eine übertriebene Staatsräson“ abzugrenzen sei (vgl. hier, S. 70 f.):
„Der Staat muß bestimmte Rechte des Menschen anerkennen, einerlei, ob ihre Außerachtlassung für einen augenblicklichen staatlichen Zweck nützlich wäre oder nicht. Von diesem Staatsräson-Utilitarismus wollen wir loskommen“.
Die Menschenwürde soll also einem „Staatsräson-Utilitarismus“ gerade absolute Grenzen entgegensetzen. Für die Europäische Menschenrechtskonvention, die an denselben Grundgedanken anschließt, kann insoweit ebenso wenig etwas anderes gelten wie für die Charta der Grundrechte der Union, deren Art. 1 die Würde des Menschen, ganz wie das Grundgesetz, für „unantastbar“ erklärt.
5.
Für das Leben als Abwehrrecht gegen den Staat hat das Bundesverfassungsgericht deshalb zu Recht bereits Grenzen einer „Abwägung von Leben gegen Leben“ anerkannt.
In seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz verwies das Gericht dabei auch auf strafgerichtliche Entscheidungen aus der Nachkriegszeit zu „vergleichbaren Fallkonstellationen“ – ohne zu der strafrechtlichen Würdigung Stellung zu nehmen (vgl. BVerfGE 115, 118 [139 ff., 157], unter Verweis auf OGHSt 1, 321 [331 ff., 335 ff.]; 2, 117 [120 ff.]; sowie hier, S. 726 ff.). In diesen Entscheidungen wurde der Grundsatz, dass eine Tötung nicht durch eine Verrechnung von Leben gegen Leben gerechtfertigt werden kann, für das Strafrecht zugrunde gelegt.
Die Anstaltsärzte, die durch die Verlegung ihrer Patienten an den nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morden an geistig Behinderten mitgewirkt hatten, verteidigten sich damit, dass sie versucht hätten, zumindest einige Menschenleben zu retten: Wenn nicht sie mitgemacht hätten, dann wären andere, rücksichtslosere Ärzte an ihre Stelle getreten, so dass noch mehr Menschen ermordet worden wären. Die Gerichte ließen diesen Einwand nicht gelten: Sie lehnten es ab, die Beihilfe zum Massenmord als durch eine Abwägung von Leben gegen Leben gerechtfertigt anzusehen.
Das Bundesverfassungsgericht deutete die Menschenwürdegarantie entsprechend, als es 2006 entschied, dass der Abschuss eines von Terroristen entführten Passagierflugzeugs auch dann die Menschenwürde der unschuldigen Passagiere verletzt, wenn er tausende von Menschen vor einem – nichtkriegerischen – Angriff wie dem auf das World Trade Center am 11. September 2001 retten soll.
Aus demselben Grund verletzt es auch den Menschenwürdekern des Lebensgrundrechts, wenn die Polizei mit einer Panzerfaust oder einer Handgranate versucht, einen Lkw zu stoppen, mit dem ein Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt verübt werden soll, aber dabei den sicheren oder hochwahrscheinlichen Tod unschuldiger Passantinnen in Kauf nimmt, um eine größere Zahl an Menschenleben zu retten. Die Vorschriften des Bayerischen Polizeirechts, die dies seit 2018 ermöglichen sollen, sind deshalb genauso grundrechtswidrig wie die Abschussermächtigung des Luftsicherheitsgesetzes es war (vgl. dazu diese GFF-Verfassungsbeschwerdeschrift).
Der Staat darf in solchen Situationen unschuldige Menschen „nicht deswegen töten, weil es weniger sind, als er durch ihren Totschlag zu retten hofft“ (vgl. Burkhard Hirsch, KritV 89 [2006], S. 3 [11 f.]). Das Grundrecht auf Achtung der Menschenwürde schließt ein abwägungsfestes Abwehrrecht darauf ein, nicht auf Grundlage einer Verrechnung von Menschenleben nach der Zahl der Geretteten getötet zu werden.
6.
Was für das Abwehrrecht auf Leben und Würde gilt, gilt freilich nicht ohne weiteres auch für die Schutzpflichten des Staates.
So darf der Staat durchaus versuchen, möglichst viele Menschenleben zu retten, wenn er dafür nicht aktiv Unschuldige tötet, sondern lediglich Hilfsmaßnahmen unterlässt, weil er nicht alle retten kann: Bei einem Lawinenunglück kann sich eine Gruppe staatlicher Notfallhelferinnen, die sich nur entweder auf die Suche nach einer kleineren oder nach einer größeren Gruppe von Verschütteten machen kann, für die größere Gruppe entscheiden.
Wenn es nicht um die aktive staatliche Tötung Unschuldiger geht, sondern etwa darum, knappe Rettungsressourcen zu verteilen, kann es also durchaus ein legitimes Ziel sein, mit den vorhandenen Mitteln die Zahl der geretteten Menschenleben zu maximieren. Das aus der Menschenwürde folgende Verbot, Leben gegen Leben abzuwägen, gilt beim Abwehrrecht auf Leben also umfassender als bei der Schutzpflicht für das Leben.
Das heißt jedoch nicht, dass bei Kollisionen zwischen den staatlichen Schutzpflichten für das Menschenleben vieler auch jede andere Begründung mit der gleichen Würde aller zu vereinbaren wäre. Der Staat darf sich zwar die Rettung möglichst vieler zum Ziel setzen, jedoch bei der Entscheidung über knappe Ressourcen nicht nach dem Lebensalter oder etwa nach den Kriterien des Art. 3 Abs. 3 GG in einer Weise diskriminieren, die den von der Menschenwürde verbürgten Mindeststandard gleicher Freiheit (vgl. dazu hier, S. 307 ff., 607 ff.) verletzt.
Nicht nur die Verpflichtung des Staates, die Würde aller Menschen zu achten, sondern auch die, sie zu schützen, setzt also einer aggregierenden Abwägung und Verrechnung der Grundrechte letzte Grenzen.
7.
Es ist deshalb zu begrüßen, dass die Empfehlungen von sieben deutschen ärztlichen Fachgesellschaften vom 25. März für die „Zuteilung von Ressourcen in der Notfall-und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ betonen, dass eine Priorisierung nicht allein aufgrund des Alters oder sozialer Kriterien zulässig ist und dass aus verfassungsrechtlichen Gründen „Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden“ dürfen (vgl. hier, S. 3).
Auch der Deutsche Ethikrat hebt in seiner Ad-hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ vom 27. März zu Recht hervor, dass die Menschenwürdegarantie einen „basalen Diskriminierungsschutz aller“ gewährleistet und nicht nur staatliche Vorgaben untersagt, die bei der Zuteilung von Lebenschancen „Differenzierungen etwa aufgrund des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft“ vornehmen, sondern dem Staat auch „eine Klassifizierung anhand des Alters, der sozialen Rolle und ihrer angenommenen ‘Wertigkeit’ oder einer prognostizierten Lebensdauer“ verbietet (vgl. hier, S. 3).
Entscheidend für die Wahrung der Menschenwürde ist, dass nicht auf eine zu erwartende „Restlebensdauer“ abgestellt werden darf, sondern nur auf die Überlebenswahrscheinlichkeiten und Heilungschancen des konkreten Patienten. Ein 90-jähriger etwa kann im konkreten Fall ebenso einen Behandlungserfolg versprechen wie manch ein jüngerer Mensch: Man denke etwa an den Richter des U.S. Supreme Court John Paul Stevens, der noch täglich Tennis spielte, als er mit 90 Jahren seine Richtertätigkeit für das Gericht beendete. Bevor er im Alter von 99 Jahren verstarb, verfasste er noch zwei Bücher. Wir sollten uns, auch in den schwersten Zeiten, bis zuletzt in unserer Einzigartigkeit wahrnehmen und würdigen. Unsere gemeinsame und gleiche Würde verlangt nicht weniger.
Dieser Artikel ist auch in englischer Sprache erschienen.
This article has also been published in English.
Ich finde es erstaunlich, wie angestrengt und wenig überzeugend hier versucht wird, den Utilitarianismus zu diskreditieren. Etwa weil es eine angelsächische Moralphilosophie ist? In vielen Ländern ist es bekanntlich erlaubt, unter Umständen ein von Terroristen entführtes Flugzeug abzuschiessen.
Bezüglich der Triage. Der Behandlungserfolg ist denke ich immer an eine gewisse Zeitspanne gebunden. Ist es sinnvoll, eine Person zu retten, die dann so oder so innerhalb eines Jahres sterben wird? Beziehungsweise kann man dann überhaupt von einem Behandlungserfolg sprechen? Wenn nicht ein Jahr, wieviele Monate sind genug? Zudem, welche Restlebensqualität muss gegeben sein, damit es ein Behandlungserfolg ist? Auch im Koma kann eine Person bekanntlich lange überleben. In der Praxis sind Leben, Lebensdauer und Lebensqualität wohl alles relevante Faktoren, unabhängig davon was das Gesetz sagt.
Bei den deutschen Triage-Empfehlungen ist der allgemeine Gesundheitszustand übrigens ein Faktor (z.B. Clinical Frailty Scale), wobei das Alter natürlich eine wichtige Rolle spielt.
Ich finde es leider nicht sehr erstaunlich, dass nach drei Generationen die Scheinbegründungen und Ursprünge der Konzentrationslager und Euthanasie, nämlich der utilitaristisch überwiegende “Kollektivnutzen” (z.B. vermeintlich der Reinigung des Volkskörpers, oder das Eliminieren von Mitkonsumenten kriegswichtiger Nahrungsressourcen) in einigen Bereichen der deutschen Rechtswissenschaftler leider zurücktreten hinter den zynischen Verlockungen rein ökonomisierten Denkens und letztlich grasierenden Sozialdarwinismus. Dem Kommentator Sepp, so er sich dem Jurastudium widmen sollte und nicht beruflich versucht, für eine völkische Partei mit “Utilitarianismus” unser Wertefundament zu relativieren, sei dringend nahegelegt, sich einmal mit eben diesem Wertefundament unserer Rechtsordnung auseinanderzusetzen, welches Professor Dr. Hong sehr gut ausbreitet. Im Übrigen muss es immer die zentrale Verpflichtung, politisch, wenn nicht rechtlich sein, Dilemata wie Triagesituationen tunlichst zu vermeiden. Dazu dienen ja dann auch die aktuellen Maßnahmen, an deren Herumkriteln sich viele Juristinnen und Juristen derzeit nach Kräften in der Gesamtgesellschaft diskrediteren und delegitimieren.
Huch, das ist ja eine unfaire und wenig differenzierende Reaktion.
Ist es wirklich zielführend Konzentrationslager und Euthanasie auf der einen Seite mit utilitaristischen Erwägungen hinsichtlich Flugzeugabschüssen und Triage in einen Topf zu werfen?
Es stimmt, das Grundgesetz ist in seinen Wertungen wohl eher an Kant orientiert als an Bentham. Ich denke aber die Wenigsten vertreten heute einen reinen Utilitarismus oder denken rein kategorisch. Ich sehe es als die große Herausforderung der Moralphilosophie (und damit auch der Rechtswissenschaft und der Politik, denn sie alle sollten an der Frage orientiert sein, was das Richtige – oder Rechte – zu tun ist) ihr Handeln sowohl an den damit verbundenen Konsequenzen als auch an kategorischen Erwägungen zu orientieren und die damit verbundenen Dilemmata durch einen konstruktiven Diskurs aufzulösen.
Wie ist in diesem Zusammenhang zu bewerten, dass die Empfehlung der ärztlichen Fachgesellschaften auch vorsieht, laufende intensivmedizinische Behandlungen erkrankter Personen aus „Gerechtigkeitserwägungen“ in Priorisierungsentscheidungen einzubeziehen (und insofern zur Disposition zu stellen)? Dass hier ein Problem liegt, wird in der Empfehlung sogar ausdrücklich reflektiert: „In Deutschland mag diese Position bei der Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen im Kontext der Priorisierung an rechtliche Grenzen stoßen. Solche Entscheidungen müssen von den Akteuren vor Ort verantwortet werden.“
So ganz bin ich aus dem Vorschlag, “nur auf Überlebenswahrscheinlichkeiten und Heilungschancen” abzustellen, nicht schlau geworden. Geht es wirklich ausschließlich um eine möglichst große Steigerung der Überlebenswahrscheinlichkeit? Also beispielsweise gerade nicht Patient A, dessen Überlebenswahrscheinlichkeit (was vermutlich unmöglich festzustellen ist, aber als Gedankenexperiment trotzdem taugt) von 70% auf 95% steigt, sondern stattdessen Patient B, dessen Überlebenswahrscheinlichkeit von 10% auf 40% steigt? Sind alle individuellen Aspekte (Alter, Familiensituation, Beruf…?) irrelevant? Nehmen wir in genau diesem Beispiel vielleicht noch an, dass Patient A (mit der etwas geringeren Steigerung der Überlebenswahrscheinlichkeit) eine dreißigjährige, alleinerziehende Mutter von drei Kindern ist, die den Beruf der Krankenpflegerin auf der Intensivstation ausübt (und als solche gerade in dieser Krise unbedingt in Zukunft für die Bedienung der Beatmungsmaschinen gebraucht würde). Patient B dagegen ist ein 90jähriger Mann, dessen Frau bereits verstorben ist und der alleine lebt. Es gibt nur noch einen Beatmungsplatz. Wer bekommt ihn?
Natürlich sind Sie dazu nicht verpflichtet, aber wenn Sie eine Größe, die bei der furchtbaren Situation der Triage in Italien und Frankreich wohl derzeit angewandt wird, für verfassungswidrig erklären, wäre es doch sinnvoll stattdessen ein anderes (verfassungskonformes) Auswahlverfahren anzubieten.
Ich bin kein Mediziner, aber das angeführte Beispiel von Weyma Lübbe, der Sie hier zustimmen, scheint mir, genau wie mein eigenes obiges Beispiel übrigens, für diese Epidemie ohnehin praxisfern zu sein. Ich denke, dass die Beatmung ein nicht unkomplizierter Eingriff ist, der selbst fachmännisch angewandt Komplikationen nach sich ziehen kann und das natürlich erst recht, wenn die Kapazitäten an betreuendem Personal begrenzt sind. Mit anderen Worten und um bei dem von Ihnen und Frau Lübbe angeführten Beispiel zu bleiben: Ein Zwanzigjähriger, der sehr wahrscheinlich überleben wird, wird wohl schon aus diesen Gründen nicht beatmet werden, sondern erst dann wenn sich sein Zustand so sehr verschlechtert, dass er eben nicht mehr sehr wahrscheinlich überleben wird. Und dann ist er ja in derselben Situation wie die Sechzigjährige.
Was folgende (m.E. entscheidende bzw. jedenfalls praxisrelevanteste) Frage nach sich zieht: Wie ist zu verfahren, wenn zwei Patienten in etwa dieselbe Überlebenswahrscheinlichkeit haben, aber ein signifikant unterschiedliches Alter? Wer wird dann behandelt?
Utilitarianismus heisst das grösstmögliche Glück für die grösstmögliche Zahl. Es hat mit Sozialdarwinismums überhaupt nichts zu tun und auch nicht mit “ökonomisiertem Denken”, da keine materielle Grösse maximiert wird. Ebensowenig ist es ein Ursprung von Konzentrationslager und Euthanasie. John Stuart Mill, der Hauptvertreter des Utilitarianismus in der Moderne, war bekanntlich ein Verfechter der individuellen Freiheit und einer der ersten Feministen (eine Rarität unter Philosophen).
Da mein vorheriger Beitrag der Zensur zum Opfer gefallen ist:
Absolute moralische Werte halte ich für eine Illusion, zumindest wenn sie von Menschen gemacht werden sollen. Selbst gutmeinende rationale Menschen mit der gleichen sozialen Konditionierung werden zweifelsohne zu anderen Werten gelangen, mögen die Unterschiede noch so klein sein. Dabei ist es wenig überzeugend, eine nicht genehme Moralphilosophie als “Anti-Moral-Philosophie” abzutun.
[…] würdige und angemessene Behandlung zugesichert werden. Damit wird u.a. bezweckt, die im starken Spannungsverhältnis mit der Menschenwürde stehende Triage zu verhindern. Es ist damit nicht erkennbar, warum mit den Kontaktbeschränkungen eine Negierung […]